Helmut F. Kaplan

Seit Bestehen der industriellen Fleischproduktion lebte diese in ständiger Gefahr „aufzufliegen“, „entdeckt“, entlarvt zu werden – in dreifacher Hinsicht: Erstens, dass den Menschen der unauflösliche Zusammenhang zwischen Fleisch-Essen und Tiere-Töten so richtig bewusst wird. (Dieser Zusammenhang wurde ja lange systematisch ausgeblendet.) Zweitens, dass den Menschen klar wird, wie schrecklich es in den Schlachthäusern wirklich zugeht. Drittens, dass die Menschen erkennen, dass es schlagende ethische Argumente GEGEN das Fleisch-Essen gibt.

All diese Gefahren wurden mittlerweile gebannt: Auf den Umstand, dass dem Fleisch-Essen das Tiere-Töten zugrundeliegt, weist die Fleischwerbung nun selber hin („artgerechte Tierhaltung“, „Rückverfolgungsgarantie“). Die Grausamkeiten in den Schlachthöfen sind Thema der Hauptabendnachrichten (fehlende oder mangelnde Betäubung). Und die Tierrechtsphilosophie, die Basis der Tierrechtsbewegung im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts, wurde praktischerweise „vergessen“.

Vom neuen Vegan-Boom droht auch keine Gefahr, weil der erstens eine Modeerscheinung ist und zweitens vegan als kompatibel mit Fleischessen dargestellt wird („Teilzeit-Veganer“). Gefahr droht der Fleischindustrie nur mehr von einer Wiederauferstehung der Tierrechtsbewegung. Genau dies wissen nun ausgerechnet die Veganer zu verhindern! Präziser: die „Religions-Veganer“, wie ich sie nennen will. Religions-Veganern geht es entgegen eigenen Beteuerungen nicht mehr primär um die Tiere, sondern um das eigene psychische Gleichgewicht. Für sie ist Veganismus identitätsstiftendes Merkmal, Vegansein Lebenshilfe und Ersatzreligion. Für Ethik oder Politik bleibt da kein Platz mehr.

Ebensowenig für das Erkennen primitivster Fakten oder einfachster Zusammenhänge. Etwa, dass außerhalb der Vegan-WG die meisten Menschen Fleischesser sind und diese Fleischesser bei der phantasierten „Veränderung der Welt“ vielleicht eine nicht ganz unerhebliche Rolle spielen könnten. Religions-Veganer konzentrieren sich lieber auf das Verdammen von Veganern, deren Vergansein noch nicht die 100-Prozent-Marke erreicht hat: „Vegetarier sind Mörder!“

Was in der Innensicht der Religions-Veganer als moralische Konsequenz erscheint, läuft de facto auf einen neurotischen bzw. religiösen Fanatismus hinaus. Was für den vorvorigen Papst die Marienverehrung war, ist für den Religions-Veganer der Veganismus: etwas, woran nicht nur sein Herz, sondern auch seine Existenz hängt. Entsprechend aggressiv und irrational sind die Reaktionen, wenn jemand diese Existenzgrundlage in Frage stellt.

Ein Beleg für diese Irrationalität ist die geradezu pathologische Egozentrik der Religions-Veganer: Man nimmt nicht nur sich selber zum Maß, sondern glaubt allen Ernstes auch noch, alle anderen seien tatsächlich genau so wie man selber bzw. lebten unter denselben Bedingungen. Ein Beispiel: „Vegan essen ist heute total einfach!“ lautet eine Lieblingsglaubensweisheit der Religions-Veganer. Dabei wird völlig übersehen, dass diese „totale Einfachheit“ von vielen Faktoren abhängt bzw. von vielen Faktoren drastisch relativiert werden kann. Etwa davon, wo man lebt, wie man lebt und über welches Einkommen man verfügt.

Völlig irrational ist auch die Boykott-Gläubigkeit der Religions-Veganer. Denn die Boykott-Tauglichkeit einer Sache ist trivialerweise auch eine quantitative Frage: Wie groß ist die Differenz zwischen Ziel und Wirklichkeit? Die Vorstellung, dass ein gegenwärtig noch dermaßen schwer zu realisierendes Verhalten wie „konsequenter Veganismus“ (von dem es, wie wir noch sehen werden, auch noch unterschiedlichste Definitionen gibt!) ein taugliches Boykott-Instrument sein könnte, ist schlicht ein Hirngespinst.

Absurderweise wird auch immer wieder die angeblich so wirksame Vorbildfunktion des Veganseins beschworen: Man müsse den Menschen einfach das Richtige vorleben, dann würden sie es schon nachmachen! Erstens ist es Fleischessern natürlich völlig egal, was ihnen Veganer „vorleben“, zweitens übersehen die Religions-Veganer, dass kein auch nur halbwegs psychisch stabiler Mensch auch nur annähernd so Vorbild-versessen ist wie sie selber. Und die Idee, daß sich jemand an E-Nummern-fixierten Neurotikern ein Vorbild nimmt, ist ohnehin eine jenseitige Vorstellung.

Geradezu beängstigend ist, was Religions-Veganer allen Ernstes als „Richtigkeitsbeweis“ für ihre Position betrachten: persönliche Befindlichkeiten!
„Ich KÖNNTE gar keinen Käse essen!“, lautet einer der vermeintlich ultimativen Trümpfe. Oder auch: „Ich kann mir einen rauchenden Veganer gar nicht vorstellen.“ Daß persönliche Befindlichkeiten null argumentatives Gewicht haben, stört nicht nur nicht, sondern wird überhaupt nicht begriffen.

Religions-Veganer reagieren mit geradezu existentieller Angst – und den entsprechenden Aggressionen! -, wenn ihnen jemand die vermeintlich sichere Grenze bzw. Grundlage ihres Veganseins wegzunehmen droht. Ganz so, wie Anhänger „echter“ Religionen reagieren, wenn jemand die Existenz (ihres) Gottes in Frage stellt. Konkret: Schon MINIMALE Abweichungen von „100-prozentig vegan“ verursachen beim Religions-Veganer MAXIMALE Verunsicherung und Empörung. Auf ungleich GRÖßERE Abweichungen von „100-prozentig menschenrechtskonform“ – etwa mangelnde „Fair trade“-Beachtung – wird vergleichsweise geradezu stoisch reagiert – ein Gradmesser für Irrationalität und Hysterie, die hier im Spiel sind.

Und was heißt 100-prozentig vegan? Fürs erste könnte man es definieren als keine tierliche Inhaltsstoffe verwendend sowie keine Stoffe, deren Herstellung Tiere involviert. Aber schon so allgemein formuliert, ist das eine weitgehend unrealistische Forderung, weil sich irgendwelche tierlichen Anteile in immens vielen Produkten und Substanzen befinden. Nicht nur in Nahrungsmitteln, sondern praktisch „überall“, etwa in Waschmitteln, LCD-Bildschirmen, Medikamenten, Kosmetika, Farben usw.

Da das 100-prozentig-vegan-Sein eine so schwierige Sache ist, wurden diverse „Konsequenz-Kriterien“ erarbeitet (wobei jeder Veganer seinen eigenen, vermeintlich einzig richtigen Konsequenz-Kanon hat). Ich greife das Kriterium „zwingend“ versus „zufällig“ heraus: Vermieden werden sollte, was Tiere „zwingend“ schädigt, also etwa der Fleisch- und Milchkonsum, weil Tiere dafür notwendig leiden und sterben müssen. Dinge, die Tiere nur „zufällig“ schädigen sind hingegen – nach dieser Konsequenz-Lesart – erlaubt. Etwa Rauchen, weil die Tierversuche der Zigarettenindustrie ja nicht notwendig mit der Zigarettenerzeugung einhergehen.

In einer Welt, in der praktisch ALLES irgendwie auf Tierausbeutung beruht, erscheint es freilich eher nebensächlich, ob die Tiere nun „zwingend“ oder „zufällig“ leiden und sterben. Außerdem fallen gravierende negative Folgen für Tiere bei diesem Konzept vollkommen unter den Tisch. Jemand, der sich etwa erfolgreich für die Verbesserung des Loses der Tiere einsetzt, z.B. durch Aufklärung und Bewusstseinsbildung, sich aber, sagen wir, „nur“ zu 99 Prozent vegan ernährt, rangiert bei dieser Zwingend-zufällig-Bewertung moralisch weit UNTER jemandem, der sich zwar (angeblich) 100-prozentig vegan ernährt, aber ansonsten nur zuhause sitzt, um E-Nummern nach „verdächtigen“ Inhaltsstoffen zu durchforsten und vegane Kochbücher zu studieren. Das ist obszöne Egozentrik auf Kosten der Tiere!

„Zwingend“ ist aber nicht nur ein schlechter Indikator für Wichtiges, sondern zuweilen sogar ein Indikator für weniger Wichtiges. So ist es bei der Fleischproduktion zwar zwingend, daß die Tiere getötet werden, noch schlimmer ist aber, dass sie dabei auch noch leiden müssen. Letzteres ist aber nicht zwingend, weil es offenkundig auch Methoden gibt, um Tiere leidensfrei zu töten („Kopfschuss statt Schlachthaus“).

Außerdem befremdet, dass dieses „Zwingend“-Kriterium beim Essen extrem rigoros, bei anderen ebenfalls tierschädigenden Praktiken aber recht locker angewandt wird: etwa beim Autofahren (Überfahren von Tieren, Aufprall an Windschutzscheibe) oder im gesamten medizinischen Bereich (der untrennbar mit Tierversuchen verbunden ist). Hier wird ungleich „großzügiger“ agiert, da genügen viel geringere „Konsequenz-Grade“ oder sie sind überhaupt kein Thema.

Die Inkonsequenz beim Konsequentsein geht aber noch weiter: Anderen Konsequenz-Ansätzen zufolge kann durchaus auch „zufällig“ tierschädigendes Verhalten problematisch sein. Etwa „nicht veganes Bier“. („Beim Bier bin ich am Recherchieren. Sind Produktanfragen zu Filtrationsmethoden im deutschen Raum bekannt?“) Vorsicht geboten ist auch bei „veganen Zigaretten“: „American Spirit ist nicht mehr sauber, mittlerweile eine 100%ige Tochter von Philip Morris.“ Dazu der Facebook-Kommentar: „Jetzt mal ganz im Ernst: wenn morgen irgendein Idiot anfängt zu testen, welche Dosis Kartoffeln tödlich ist und dazu Kartoffeln in Affen stopft bis diese sterben, dürfen ‘echte‘ Veganer dann keine Kartoffeln mehr essen?“

© Helmut F. Kaplan

Helmut F. Kaplan ist Philosoph und Autor. Seine erstmals 1993 erschienene Schrift „Leichenschmaus“ gilt als wichtigstes deutschsprachiges Tierrechtsbuch. Soeben ist „Vegan soll keine Religion sein: Für eine realistische Ethik“ erschienen.

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Helmut Kaplan (03.01.2014; 10:19 Uhr)
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Siehe auch:

Vegan soll keine Religion sein: Für eine realistische Ethik [Taschenbuch]
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Veröffentlicht von „der fellbeißer“© (www.fellbeisser.net/news/) am 03.01.2014
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