In letzter Minute hatte der Oberbürgermeister von Leipzig, Burkhard Jung, am vergangenen Donnerstag ein Schreiben an den Intendanten des Centraltheaters Leipzig geschickt und die geplante Schlachtung von Tieren für das „Orgien und Mysterientheater“ von Hermann Nitsch untersagt. Pünktlich zur Generalprobe. So weit, so gut. Aber warum erst an diesem Tag und nicht schon vor einem halben Jahr? Eine gute PR-Strategie oder der Erfolg der Tierschützer? Unzählige Protestschreiben und eine stimmenstarke Petition dürften das Schauspielhaus nicht gleichgültig gelassen haben. Laut einem Bericht in der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“, beruft sich Jung darauf, dass „das Schlachten der Tiere zum Zweck der Bereitstellung von Requisiten für eine Kunstaktion nicht gerechtfertigt sei.“ Und das Veterinäramt Leipzig hätte das Theater noch vor Weihnachten über diese Bestimmungen des Tierschutzgesetzes aufgeklärt. Diese besagen, dass Tiere nur aus „vernünftigen Gründen“ getötet werden dürfen. Aus vernünftigen Gründen? Gibt es die? Doch weshalb wurde dies nicht schon früher medienwirksam bekanntgegeben? Und warum ist es allem Anschein nach nun wieder ganz anders gewesen?
Auf der Homepage des Leipziger Centraltheaters sind folgende Zeilen zu lesen:
„Die rechtskonforme Beschaffung und Verwendung des in der Aktion verwendeten tierischen Fleisches wird durch zertifizierte Überwachung gewährleistet. Auf der Bühne des Centraltheaters wird kein Tier gequält oder gefoltert, geschweige denn getötet“
Auf Facebook hingegen, findet man bereits am nächsten Tag Fotos eines aufgehängten Schweines, die während der Veranstaltung am Samstag aufgenommen wurden.
Der Sprecher der Stadt Leipzig, Matthias Hasberg, gab am Tag der Aufführung bekannt, dass Fleisch auf der Bühne grundsätzlich geht – „aber es muss verzehrfähiges Fleisch sein.“ Nun waren es also verzehrfähiges Fleisch und Gedärme. Von getöteten und einst fühlenden Lebewesen stammten sie allemal. Und die hässliche Frage drängt sich einem auf, inwiefern ein ganzes Schwein verzehrfähig ist und wie die Bestimmungen des Tierschutzgesetzes umgangen wurden, wenn nun doch tote Tiere in dieses Lebewesen-entwürdigende-Spektakel miteinbezogen wurden.
Die Berliner Zeitung schreibt zu der Aufführung Folgendes: „Es wurden keine Tiere geschändet, auch nicht auf der Bühne getötet. Alle zum Einsatz gebrachten toten Tiere, mehrere Schweine, drei Störe, ein Rind, wurden vom Theater ordnungsgemäß angekauft.“
Keine Schändung?

Foto: Vanessa Saruba (aufgenommen während der Aufführung am 22.6.)*

„Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit“. Dies war das Motto der Wiener Sezessionisten und jener berühmte Satz prangt noch immer in goldenen Jugendstilbuchstaben über dem Eingang der Wiener Secession. Tatsächlich leben wir aber in einem Zeitalter, in dem das Wort Kunst anscheinend auf jede erdenkliche Art und Weise missbraucht werden kann. Wie dehnbar ist dieser Begriff, bis die Grenzen des Ertragbaren erreicht sind? Wie viel Dekadenz kann Kunst ertragen? Dekadenz leitet sich vom lateinischen Wort „cadere“ ab und bedeutet fallen oder sinken. Sprachgeschichtlich wurde es erstmals mit dem Verfall und Niedergang des Römischen Reiches verwendet. Dekadenz stellt voraus, dass es bessere und wünschenswertere Umstände gäbe.**
Ein besserer und wünschenswerterer Umstand wäre, dass keine Tiere mehr getötet werden würden, weder für die Kunst noch für den menschlichen Verzehr. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, erlebt dieses Zeitalter gerade einen eklatanten Niedergang, der bei Weitem nicht nur auf der Bühne des Leipziger Schauspiels stattgefunden hat. Dem Ausmaß des Leidens der Tiere sind keine Grenzen mehr gesetzt und für dieses andauernde Massaker an den Tieren müsste ein neues Wort erfunden werden – der Holocaustvergleich ist bekanntlich umstritten. Eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Begriff des Speziesismus erscheint noch Lichtjahre von den Verfassungsgerichten dieser Welt entfernt. Zwar werden laut dem Zusatzprotokoll des Amsterdamer Vertrages aus dem Jahr 1997 Tiere „als fühlende Wesen anerkannt und es dürfen ihnen keine vermeidbaren Schmerzen oder Leiden zugefügt werden“, doch was erleben rund fünfzig Milliarden getötete Tiere jedes Jahr weltweit, vor und zum Zeitpunkt ihrer Schlachtung? Was fühlen Milliarden von Tieren, die wie Sklaven in unzumutbarer Gefangenschaft gehalten werden? Wie sehr müssen sie leiden und ein qualvolles Dasein führen, bevor ihr Blut für die Behauptung, „Der Mensch hat immer schon Fleisch gegessen“, vergossen wird?

Schwein in KZ-Haltung
Schwein in KZ-Haltung

Dieses Verbrechen an den Tieren und diese Dekadenz kann sich die Menschheit nicht mehr lange leisten. Diese dekadente Einstellung gegenüber einer anderen Spezies wird tatsächlich einen großen Niedergang zur Folge haben, wenn sich nicht bald grundlegend etwas ändert: Die Zerstörung dieses Planeten und damit die Lebensgrundlage aller Bewohner.

N.B. Zu der Aufführung des Orgien- und Mysterientheaters gab das Schauspiel Leipzig folgenden Hinweis: „Für die Veranstaltung gilt eine Altersbeschränkung ab 16 Jahren. Aufgrund der Lautstärke ist die Veranstaltung für Herzkranke und Schwangere nicht geeignet.“
Aufgrund der Lautstärke?

*Vanessa Saruba ist einer jener mitfühlenden und mutigen Menschen, die vor Ort in Leipzig zusammen mit der Tierschutzpartei protestiert haben.

© Daniela Böhm
www.danielaböhm.com

**Wikipedia