Die Würde des Menschen ist unantastbar. Artikel 1, Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes. Es überrascht immer wieder, auch wenn es das nicht sollte, wie wenig all die menschgemachten Gesetze einen Großteil der Bevölkerung dieses Planeten miteinbeziehen. Oft wird für die Tiere erst dann etwas getan, wenn es ans Eingemachte geht. Wie beispielsweise beim weltweiten Bienensterben, das wir Monsanto und Co. zu verdanken haben. Die Aufmerksamkeit ist groß – ohne Bienen keine Nahrung. Wären die Bienen ausschließlich sogenannte Nutztiere, wegen ihres Honigs und nicht auch lebensspendend – wer weiß, ob ihr Sterben dem Menschen so einen Schrecken einjagen würde.

Im Yellow Stone Naturpark wurden 1995 erneut Wölfe angesiedelt, nachdem das Land durch eine Überpopulation von Hirschen und Rehen karg und öde geworden war. Erstaunliches geschah: Natürlich töteten die Wölfe auch Wild, aber vor allem verwiesen sie es durch ihre Anwesenheit in ganz bestimmte Gebiete. So konnte sich die Natur erholen, Wildblumen, Pflanzen und Bäume wuchsen wieder, Vögel, Insekten und viele andere Tierarten kehrten zurück. Die Wölfe erlegten nicht nur Wild, sondern auch Kojoten, dadurch gab es wieder mehr Kaninchen und Mäuse und diese zogen wiederum die Greifvögel an. Weil sich die gesamte Vegetation regenerierte, tauchten erneut die Biber auf, bauten ihre Dämme und ganz schnell gab es mehr Fische in den Flüssen. Selbst den Lauf der Flüsse beeinflussten die Wölfe, denn durch die weitreichenden und positiven Veränderungen der Natur festigten sich auch die Flussufer.

 (c) Foto: by Todd Ryburn piqs.de

Dieses Beispiel zeigt, wie sehr Tiere das Gleichgewicht der Natur halten, ein Gleichgewicht, welches der Mensch in bereits erschreckendem Ausmaß zerstört hat. Und es beweist, wie absurd und armselig die Argumente der Jäger sind, dass sie Wild und Füchse töten müssten, weil der Wald sonst zugrunde gehen würde – das Gegenteil ist der Fall. Es herrscht Krieg in den Wäldern, überall – nicht nur unter den Menschen. Der Mensch führt auch Krieg gegen die Tiere. Dieser Frieden, der so herbeigesehnt wird, kann erst entstehen, wenn jegliches Blutvergießen ein Ende gefunden hat.

Das Wesen Mensch kann und muss sich infrage stellen. Und dieses sich infrage stellen führt zur Ethik. Der Begriff Ethik wurde von Aristoteles als Bezeichnung für eine philosophische Disziplin eingeführt, mit dem Hintergrund, dass es für ein vernunftbegabtes Wesen wie den Menschen unangemessen sei, wenn sein Handeln ausschließlich von Konventionen und Traditionen bestimmt wird. Die jahrtausendealte Tradition des Fleischessens muss heute mehr denn je infrage gestellt werden, unser Verhältnis zu den Tieren muss hinterfragt werden – es ist eine emphatische und vernunftbedingte Notwendigkeit. Ethik wird heute als eine Disziplin verstanden, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Kriterien für gutes und schlechtes Handeln aufzustellen und seine Motive und Folgen zu bewerten. Die Folgen des menschlichen Handelns gegenüber einem Großteil der Mitbewohner dieses Planeten können nicht anders als unethisch eingestuft werden. Von einer weltumspannenden Tierrechtsethik sind wir leider noch weit entfernt.

In seiner berühmten Rede I have a dream vom 28. August 1963 sagte Martin Luther King u.a.: „Wir können nicht zufriedengestellt sein, solange unsere Kinder ihrer Freiheit und Würde beraubt werden.“ Die Forderungen von King für die Rechte seiner dunkelhäutigen Brüder und Schwestern waren bedingungslos. Die Forderungen der Tierrechtsbewegung sind es ebenso, müssen es sein, auch wenn es ein langer Weg in eine Welt ist, in der Tiere nicht mehr wie die Sklaven von einst behandelt werden, weil sie der Mensch als minderwertig ansieht – ähnlich wie zu jener Zeit, als Martin Luther King für eine Welt der Brüderlichkeit unter den Menschen kämpfte.
Wir können nicht zufrieden sein, solange unseren kleinen Brüdern und Schwestern, den Tieren, so unendlich viel Leid angetan wird. Wir dürfen nicht zufrieden sein und aufgeben, bis das Recht auf ein Leben in Freiheit und Würde für alle gleichermaßen gilt.

für fellbeisser (c) Foto: privat

Die Würde eines jeden Lebewesens, nicht nur die des Menschen, ist unantastbar. Sprachgeschichtlich ist Würde mit dem Wort „Wert“ verwandt. Jedes Lebewesen besitzt einen ihm innewohnenden Wert, er ist ihm als Geburtsrecht mitgegeben worden. Eine einzigartige Seinsbestimmung macht es zu einem Wesen, welches Wertschätzung verdient. Jemandes Wert zu schätzen hat mit Respekt und Achtung zu tun.
Aber wie weit sind Massentierhaltung, das milliardenfache Schreddern von neugeborenen Küken, die Ausbeutung in der Milchindustrie, Schlachthäuser, die Pelzindustrie, Tiere in Zirkussen oder die Überfischung der Meere von jeglicher Achtung gegenüber fühlenden Lebewesen entfernt, die der Mensch zu sogenannten Nutztieren degradiert hat und die er nach Belieben ausbeutet. Die tierverachtende Haltung des Menschen bedeutet modernes Sklaventum und entbehrt jedweder Ethik und jeglicher Vernunft. Massentierhaltung ist gleichzusetzen mit Misshandlung und eine der größten ökologischen Bedrohungen für diesen Planeten.

Ein Großteil der Menschheit hat über Jahrtausende hinweg Fleisch gegessen. Das ist richtig, aber kein Argument dafür, dass es so bleiben muss. Jahrtausendelang hat die anthropozentrische Herrschaft diese Welt regiert. Es ist Zeit, sich davon zu verabschieden und ein neues und ganzheitliches Denken und Handeln entstehen zu lassen. Der Mensch entwickelt sich beständig weiter, erkennt Zusammenhänge und Wahrheiten. Und er rühmt sich gerne all seiner Errungenschaften und Fortschritte und auch seines moralischen Fortschritts. Was wir dringend brauchen, ist ein Fortschritt in der Empathie, wir brauchen eine Grenzenlosigkeit des Mitgefühls. Es sind die Grenzen und Begrenzungen in unseren Köpfen, die Leid verursachen oder es nicht sehen wollen. Sie sind es, die fallen müssen, denn es ist ein Irrglaube, dass uns das Leid anderer nichts anginge, ob es die verzweifelten Flüchtlinge sind oder die verzweifelten Tiere, welche in ihren Tod transportiert werden. Alles ist mit allem verbunden.

WELLEN - BRECHER (c) Foto: by kstudi piqs.de

Spät in der Nacht an den Klippen fragt König Lear in dem gleichnamigen Stück von William Shakespeare den blinden Earl von Gloucester: „Wie sehen Sie die Welt?“ Und der blinde Earl von Gloucester antwortet: “Ich sehe Sie fühlend.“
Wir kommen als Fühlende auf diese Erde. Als Kinder sehen wir sie tatsächlich fühlend, bevor wir in die Welt der Begrifflichkeiten und Namen eintauchen und von Konditionierungen geprägt werden. Wir freuen uns mit Begeisterung über die unendliche Vielfalt der Erde mit ihren Ausdrucksformen und all ihren Lebewesen – wir sind Erdlinge. Unsere Liebe kennt noch keine speziesistischen Grenzen und wir sind unbefangen – der Regenwurm, der fleißig die Erde umgräbt, fasziniert uns genauso wie die behäbigen Kühe auf der Wiese. Doch irgendwann und irgendwie, während wir heranwachsen und unsere Erfahrungen machen, verlernen wir manchmal, fühlend zu sehen; wir übernehmen die Denkmuster und Einstellungen unserer Eltern und der Gesellschaft und allzu oft hinterfragen wir diese nicht.
Wenn wir es als Menschen schaffen, Vernunft und Empathie in gleichem Maße zu leben, dann können wir eine Welt erschaffen, die für alle Bewohner dieser Erde lebenswert ist. Was wir brauchen, ist eine allumfassende Ethik und ein ganzheitliches Bewusstsein.
Friedrich von Schiller schrieb über den Begriff der Würde: “Würde bezeichnet auch den Ausdruck einer erhabenen Gesinnung.“
Geben wir den Tieren, unseren kleinen Brüdern und Schwestern, ihre verlorene Würde zurück. Indem wir sie würdelos behandeln, geht auch ein großes Stück unserer menschlichen Würde verloren.

© Daniela Böhm 2015
www.danielaböhm.com

4 Kommentare

  1. So richtig im Redebeitrag jeder Satz sein mag, so vermisse ich darin dennoch zumindest die Erwähnung der Hauptgründe der grausamen Massentierhaltung, der Zerstörung der Umwelt usw. usw. – nämlich das eklatante Ansteigen der Weltbevölkerung.

  2. Glückwunsch, liebe Frau Böhm!

    Ihre Worte sind sprachlich und inhaltlich brilliant. Nur ein einziges Ihrer Ausführungen stört mich, und zwar das „kleinen“ in Ihrem Fazit: „Geben wir den Tieren, unseren kleinen Brüdern und Schwestern, ihre verlorene Würde zurück…“ Es besteht kein Grund, andersartige Tiere (als der Mensch es zweifellos auch ist) pauschal als „kleiner“ zu bezeichnen. Wenn Sie damit Körpergrößen meinen, was ich nicht annehme, gälte Ihre Aussage nur für einen Bruchteil der Nicht-Menschen. Ich muss also befürchten, dass Sie mit „kleinen“ eine generelle „Untermaßigkeit“ von Tieren im Vergleich zum Menschen signalisieren. Dies passt nicht zu Ihren Ausführungen und Ihrer respektablen Ethik und wäre ein Rückfall in die sattsam bekannte und naturwissenschaftlich unhaltbare Denkweise der vertikalen Werte-Hierarchie, die die drei antiken und leider heute noch (150 Jahre nach Darwin) weltweit Ton angebenden Eingott-Religionen des nahen Ostens in die Welt gesetzt haben und die im Ermächtigungsauftrag des Menschen über alle Lebewesen und Lebensräume gipfeln – mit den katastrophalen Folgen, die wir alle kennen und die Sie, liebe Frau Böhm, auch in Ihren zahlreichen hervorragenden Stellungnahmen an anderer Stelle zurecht anprangern. Nein, der Mensch ist kein ausgereiftes Erfolgsmodell der Evolution, das sich brüsten kann, großartiger zu sein als andere Mitlebewesen. Trotz seiner zweifellos großen Intelligenz ist er nicht nicht von Verstand, sondern von Hirngespinsten und Hier- und Heute-Egoismen gesteuert und benimmt sich auf der Weltbühne wie ein primitiver Parasit, der noch nicht gelert hat, sich dem Wirt dauerhaft anzupassen, sondern ihn kurzfristig zu vernichten. Es besteht kein Grund für das vermeintliche Besserwesen Mensch, dem vermeintlichen Unterwesen Tier in herablassender Barmherzigkeit zu begegnen, sondern es in seinern natürlichen Andersartigkeiten und Grundrechten voll zu respektieren. Unter anderem die Abschaffung der Nutztierschaft und Tiersklaverei wäre damit automatisch verbunden.

    Mit freundlichen Grüßen

    Gerhard Heybrock

  3. Leider wurde die Hauptursache für Massentierhaltung, Naturzerstörung usw. usw. auch in diesem Redebeitrag nicht einmal ansatzweise erwähnt – nämlich der eklatante Anstieg der Weltbevölkerung.

  4. Lieber Herr Heybrock,

    vielen Dank für Ihren Kommentar und ich gebe Ihnen in Ihren sehr guten Anmerkungen vollkommen recht! Allerdings hatte ich mit dem Ausdruck „kleinen Brüder und Schwestern“ niemals im Sinn, die Tiere irgendwie herabzustufen. Ich lehne mich da an den von mir sehr verehrten Manfred Kyber an, der von unseren „jüngeren Tiergeschwistern“ sprach. So ist dieses „klein“ auch zu verstehen, also wie wenn ein großer Bruder von seiner kleinen Schwester spricht – im Sinne von „schutzbefohlen“, Verantwortung tragen, achtgeben – es ist eigentlich nur liebevoll gemeint.
    Aber ich verstehe schon, dass es vielleicht missinterpretiert werden kann.

    Herzliche Grüße

    Daniela

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