Ingolf Bossenz

Mit Plutarch und “Leichenschmaus“ für die Rechte der Tiere Der österreichische Philosoph Helmut F. Kaplan vertritt einen konsequent ethisch begründeten Vegetarismus Weihnachten ist ihm ein Gräuel, die Befreiung der Tiere sieht er als die logische Fortsetzung der Sklavenbefreiung, und den Fleischverzehr nennt er “Leichenschmaus“. So lautet auch der Titel seines populärsten Buches, das die Zeitschrift “Focus“ als “Bibel der Radikalvegetarier und Tierbefreier“ bezeichnete. Der Autor, der österreichische Philosoph Helmut F. Kaplan, ist der bekannteste Theoretiker der Tierrechtsbewegung im deutschsprachigen Raum.

“Unerträgliche, unübertroffene, grauenvolle Verlogenheit.“ So sieht Helmut F. Kaplan Weihnachten, das in unserem “christlichen Abendland“ als schönstes Fest des Jahres gilt. Auf die Frage, ob diese Häufung negativer Superlative nicht sehr übertrieben sei, begründet der 54-jährige Österreicher im Gespräch diese irritierende Charakterisierung: “Im Gegenteil, der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit kann mit Worten kaum drastisch genug ausgedrückt werden: Es wird gefeiert, gesungen, man ist zu Tränen gerührt – und das bei einem Fest, das alljährlich für Millionen nicht menschlicher Kreaturen ein Massaker bedeutet. Auf der einen Seite das Gerede von Liebe und Vergebung, auf der anderen Seite das Gemetzel in den Schlachthöfen.“

Die Lösung dieses Widerspruchs und damit die Auflösung solcher nicht nur weihnachtlichen Verlogenheit befindet sich für Kaplan buchstäblich vor unserer Nase – auf dem Teller. Er verweist auf den griechischen Philosophen Plutarch, der bereits vor über zweitausend Jahren schrieb: “Für einen Bissen Fleisch nehmen wir einem Tier die Sonne und das Licht und das bisschen Leben und Zeit, an dem sich zu erfreuen seine Bestimmung gewesen wäre.“

Fleischverzicht mit 11 Jahren

Als sich der Salzburger 1963 entschloss, fortan kein Fleisch mehr zu essen, waren ihm weder Plutarch noch andere Geistesgrößen ein Begriff. Es gab auch kein Schlüsselerlebnis für diese Zäsur. Der 11-jährige Junge hatte einfach genug vom Anblick der blutigen Auslagen in den Metzgerläden, der zerstückelten Kreaturen in den Fleischregalen, der mit Eis beschütteten toten Fische in den Lebensmittelgeschäften.

Dem vor allem emotional begründeten Entschluss, nicht mehr mitschuldig sein zu wollen am millionenfachen Töten von Tieren, folgte die Suche nach den richtigen Argumenten. Sie war später maßgeblich für Kaplans Entscheidung, ab 1975 Psychologie und Philosophie an der Universität Salzburg zu studieren. Mit einer Arbeit zu Freuds Psychoanalyse promovierte er dort zum Doktor der Philosophie.

Mitte der 80er Jahre begann Kaplans intensive Beschäftigung mit der Philosophie der Tierrechtsbewegung. Österreich und die anderen deutschsprachigen Staaten waren damals Entwicklungsländer, was die Bewertung und Behandlung von Tieren betraf. Dagegen hatten sich im englischsprachigen Raum in dieser Hinsicht bereits revolutionäre Veränderungen vollzogen. Der traditionelle Tierschutz war durch eine Tierrechtsbewegung ergänzt worden, die einen kompromisslosen, ethisch begründeten Vegetarismus propagierte. Ihren führenden Theoretiker hatte sie in dem australischen Philosophen Peter Singer gefunden, dessen 1975 erschienenes Buch “Animal Liberation“ (Befreiung der Tiere) zum Gründungsdokument der Tierrechtsphilosophie wurde. Da war es nahe liegend, dass Helmut Kaplan sein Philosophiestudium 1987 mit einer Arbeit zu “Peter Singers Philosophie des Vegetarismus“ abschloss.

Ein Klassiker – sogar in Japan

Von nun an hatte die deutschsprachige Tierrechtsszene ihren eigenen Theoretiker, der mit bislang rund einem Dutzend Büchern (zuletzt erschienen: “Der Verrat des Menschen an den Tieren“), zahllosen anderweitigen Publikationen sowie öffentlichen Auftritten wie kein Zweiter die Debatte um Tierschutz, Tierrechte und Vegetarismus prägt. 1993 erschien bei Rowohlt sein Buch “Leichenschmaus – Ethische Gründe für eine vegetarische Ernährung“. Längst ein Klassiker, der sogar ins Japanische übersetzt wurde. Den vom “Focus“ geprägten Begriff “Bibel“ mag Kaplan allerdings weniger. Nicht unbedingt aus persönlicher Bescheidenheit (Wer liest oder hört derlei nicht gern?). Doch ihm geht es ja gerade um die Verbannung alles Religiösen und religiös Verbrämten aus der Ethik. “Religiöse Überzeugungen sind private Glaubenshaltungen“, erklärt Kaplan. “Tierrechte aber sind – ebenso wie Menschenrechte – allgemeinverbindliche Moral-, Rechts- und Gerechtigkeitspositionen.“ Daher seien alle strikten Verknüpfungen von Tier- oder Menschenrechten mit bestimmten religiösen Vorstellungen unsinnig. Was übrigens auch umgekehrt gelte. Denn die Schimäre einer moralischen Kluft zwischen Menschen und Tieren, die immer noch in der Ethik herrscht, habe vor allem religiöse Ursachen: “Zum Beispiel den Glauben, dass nur der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen sei und nur er eine unsterbliche Seele habe. Würden wir endlich ernst nehmen, was wir seit Darwin wissen – dass es EINE Evolution ALLEN Lebens gab und gibt –, würde diese Kluft verschwinden, und wir würden unsere moralische Verantwortung auch gegenüber Tieren erkennen.“

Diese Verantwortung muss für Kaplan darin münden, den Tieren Rechte zuzubilligen. Doch was sind eigentlich “Tierrechte“? “Es geht vor allem um das Recht auf Leben, um das Recht auf physische Unversehrtheit und um das Recht auf Freiheit von Schmerz und Leid – jedenfalls, so weit das von uns Menschen abhängt. Das bedeutet: Wenn wir wissen, dass Tiere leiden, sollten wir Leiden verhindern. Und wo wir nicht sicher sind, ob Tiere leiden, sollten wir möglicherweise Leiden verursachende Handlungen unterlassen. Leider sind solche Erwägungen reine Theorie – weil wir in der Praxis selbst Tiere mit erwiesener größter Leidensfähigkeit behandeln, als wären sie leblose Gegenstände. Verwiesen sei nur darauf, wie in Schlachthöfen etwa mit Rindern oder Schweinen umgegangen wird!“

Einst die Sklaven – heute die Tiere

Helmut Kaplan sieht sowohl Menschen- wie Tierrechte als “ethisch begründete Rechte, die vor allem kulturellen Ursprungs sind“. Schließlich hätten wir uns im Laufe unserer Entwicklung dafür entschieden, allen Menschen grundlegende Rechte zuzugestehen. Und Kaplan erinnert: “Das war bekanntlich nicht immer so – siehe etwa die Sklaverei oder die Frauendiskriminierung. Und die Tierrechtsbewegung ist die logische und notwendige Fortsetzung anderer Befreiungsbewegungen, wie eben der Befreiung der Sklaven, des Kampfes gegen Rassismus oder für die Emanzipation der Frauen.“

Diese Einbeziehung nicht menschlicher Lebewesen ist das eigentlich Revolutionäre an der von Kaplan und anderen vertretenen Ethik. Galt es doch bis in die 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts als Konsens unter den Philosophen, dass ausschließlich der Mensch legitimes Subjekt der Ethik ist.

Dennoch will Kaplan nicht von einer “neuen“ Ethik sprechen: “Wir brauchen überhaupt keine neue Ethik, wir müssen lediglich die vorhandene Ethik konsequent zu Ende denken. Und vor allem anwenden!“ Das entscheidende Kriterium dabei sieht der Salzburger Philosoph in der Leidensfähigkeit. “Wenn wir wollen, wissen wir sehr genau, wie Tiere behandelt werden möchten. Dazu brauchen wir uns nur ehrlich und ernsthaft in deren Situation zu versetzen, um uns dann zu fragen, wie wir an ihrer Stelle behandelt werden möchten. Das wird uns in den allermeisten Fällen, etwa bei Tieren im Schlachthof oder im Versuchslabor, überhaupt nicht schwerfallen. Im Gegenteil: Unser moralisches Problem wird vielmehr meistens sein, dass wir uns so leicht in ihre Lage versetzen können!“

Der für Kaplan einzige wirkliche Ausweg aus diesem moralischen Konflikt (Biofleisch aus so genannter artgerechter Haltung ist für ihn nur eine “Notlösung“): Verzicht auf Fleisch und möglichst auch alle anderen Produkte vom Tier, also vegane Ernährung.

Doch ungeachtet dieser radikalen Forderung ist der Österreicher Realist genug, der Entwicklung und vor allem den Menschen Zeit zu geben: “Wenn jemand, der bis jetzt zwanzig Prozent vegane Lebensmittel gegessen hat, nunmehr vierzig Prozent solcher Lebensmittel isst, so ist das ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn ein Fleischesser zum Vegetarier wird, so ist das ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn ein Fleischesser, der bisher zehn Wurstsemmeln pro Woche gegessen hat, nur noch fünf isst, so ist das ein Schritt in die richtige Richtung. Und wenn jemand, der noch nie über Tierrechte nachgedacht hat, beginnt, sich darüber Gedanken zu machen, so ist das ein Schritt in die richtige Richtung.“

Erstveröffentlichung: Herz + Schnauze, 2007, S. 22 f.

———-

Dr. Helmut F. Kaplan (29.04.2007; 05:12 Uhr)

kaplan@vegetarismus.org

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

wp-puzzle.com logo