Helmut F. Kaplan

Unter Tierrechtlern besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass man vegan leben sollte. Bemerkenswerterweise wird kaum je gefragt, inwiefern sich die Veganforderung auch aus den diversen tierrechtsphilosophischen Ansätzen ergibt. Im Folgenden sollen daher die vier einflußreichsten Tierrechtstheorien im Hinblick auf ihre Implikationen bezüglich Vegetarismus und Veganismus untersucht werden.

Peter Singer (2013) plädiert aufgrund des Prinzips der gleichen Interessenabwägung für eine vegane Lebensweise: „Menschen [können] durchaus ein gesundes Leben führen, ohne tierische Produkte zu verzehren“ (107). Sind wir uns aber sicher, daß die tierlichen Produkte, die wir zu kaufen gedenken, leidensfrei produziert wurden, ist eine vegane Ernährung nicht zwingend. Singer schränkt aber gleich ein, dass dies kaum je der Fall sein wird. Da es für Bewohner von Städten sehr schwer ist festzustellen, wie die Tiere, deren Produkte sie essen wollen, gelebt haben und gestorben sind, ist eine vegane Lebensweise hier „sehr naheliegend“. (Ebd., S. 110f.)

Zwei Hinweise dürfen aber nicht fehlen: Für diesen Befund hat Singer die Tötungsproblematik ausgeklammert. (Ebd., 110) Berücksichtigt man auch den philosophisch schwierigen Tötungsaspekt, können sich vollkommen andere Konsequenzen ergeben. (Ebd., 191ff.) Zweitens: Orientiert man sich an Singers utilitaristischer Position (anstatt am Prinzip der geichen Interessenabwägung), so ist es laut Tom Regan (1980, 309-312) alles andere als klar, dass eine Beendigung des Konsums von Fleisch (und zwar sogar von Fleisch aus der Intensivtierzucht!) unterm Strich für alle Beteiligten, Menschen und Tiere, zu einer besseren Glücks- bzw. Leidensbilanz führen würde als eine vegetarische Lebensweise. Schließlich verdanken viele Menschen der Fleischindustrie, direkt oder indirekt, ihren Arbeitsplatz: Tierzüchter und -händler, Käfigproduzenten, Transporteure, Schlächter usw. Außerdem müssen die Familien dieser Menschen, deren Lebensunterhalt ebenfalls von der Fleischindustrie abhängt, berücksichtigt werden. Diese involvierten menschlichen Interessen sind in ihrer Summe, so Regan, utilitaristisch betrachtet, alles andere als trivial.

Tom Regans (1984) eigenes zentrales Konzept ist der ,inhärente Wert‘. Inhärenten Wert schreibt Regan ,Subjekten eine Lebens‘ zu. Das sind Wesen mit Wahrnehmungen, Wünschen, Gedächtnis, Annahmen, Selbstbewußtsein, Zukunftsvorstellungen und Interessen. Subjekte eines Lebens sind alle Menschen und anderen Säugetiere, die die geistigen Fähigkeiten von mindestens einjährigen normal entwickelten Exemplaren haben. (Ebd., 78, 81, 243ff., 264; Wolf 2012, 49)

Wesen mit einem inhärenten, also einem eigenen Wert dürfen nie so behandelt werden, als hinge ihr Wert von ihrer Nützlichkeit für andere ab. Insbesondere dürfen sie nicht geschädigt werden unter Hinweis darauf, dass dies der Maximierung der Interessen aller Beteiligten diene. (Regan 1984, 248f.) Genau so sehen und behandeln wir aber die Tiere, die für unseren Konsum bestimmt sind: Ihr Wert wird ausschließlich in ihrer Nützlichkeit für andere, nämlich für uns, gesehen. Wir töten sie und betrachten sie als erneuerbare Ressourcen. Dass wir ihnen obendrein großes Leiden zufügen, ist aus Regans Sicht lediglich ein zusätzliches Unrecht. (Ebd., 343-345, 394)

Hinsichtlich anderer Tiere als Säugetiere, insbesondere hinsichtlich Vögel, gibt Regan zu bedenken, dass wir schlicht nicht wissen, wo genau die Grenze zwischen Tieren, die Subjekte eines Lebens sind, und solchen, die keine Subjekte eines Lebens sind, zu ziehen ist und dass wir im Zweifelsfall Tiere behandeln sollten, als wären sie Subjekte eines Lebens. (Ebd., 349, 365-367) An anderer Stelle spricht Regan (2014, 111f.) Vögeln ausdrücklich Subjekt-eines-Lebens-Status zu und sieht gute Gründe, ihn auch Fischen zuzugestehen. Regan (o.J.) plädiert, wie Kaplan (2013), für einen erweiterten und an Tierrechten orientierten Veganismusbegriff, bei dem eine vegane Ernährung lediglich einen Teil der angestebten Veränderungen darstellt.

Gary L. Francione (2014) lehnt die sogenannte ,Theorie der Geistesverwandtschaft‘ ab, wonach nur Tiere, die uns in besonderem Maße ,geistesverwandt‘, sprich: psychisch ähnlich sind, eine bevorzugte moralische Behandlung verdienen. Anstatt hohe Hürden für die ernsthafte moralische Berücksichtigung von Tieren zu errichten, sollten wir anerkennen, dass allein die Empfindungsfähigkeit ausreicht, um vollwertiges Mitglied der moralischen Gemeinschaft zu sein. (Ebd., 153f., 171, 173f.)

Zur praktischen Umsetzung dieses Konzepts bedarf es, so Francione, der Abschaffung des Eigentumsstatus von Tieren. Denn solange Tiere unser Eigentum sind, werden de facto alle Interessenerwägungen vom Verhältnis Eigentümer – Eigentum dominiert, ja bestimmt, Tiere werden als Dinge wahrgenommen und wie Dinge behandelt. Der Eigentumsstatus der Tiere wirkt sich doppelt negativ für Tiere aus: erstens hindert er uns an der Erkenntnis, dass tierliche Interessen den unseren ähneln, zweitens verführt er dazu, selbst als ähnlich erkannte tierliche Interessen den menschlichen Interessen unterzuordnen. Der Eigentumsstatus der Tiere nimmt das Ergebnis moralischer Abwägungen de facto immer schon vorweg. (Ebd., 159f., 171-173)

Eine vegane Lebensweise resultiert aus diesen Erwägungen und Forderungen für Francione offenbar automatisch bzw. notwendig. Jedenfalls schließt er mit den Worten: „Die Bemühungen derer, die sich für die Tiere einsetzen, sollten dahingehen, den Veganismus zu fördern und den Eigentumsstatus der Tiere schrittweise abzubauen“ (ebd., 174f.).

Sue Donaldson und Will Kymlicka (2014) entwickeln ihr Tierrechtskonzept in Analogie zu Menschenrechten. Alle Wesen, die empfindungsfähig sind, Interessen und ein subjektives Wohlergehen haben, also ihr Leben aus einer Innenperspektive erfahren, sollten unverletzliche Grundrechte haben. Auf menschlicher Ebene sind das die universellen Menschenrechte. Die Autoren unterscheiden zwischen domestizierten Tieren, wildlebenden Tieren und sogenannten ,Grenzgänger-Tieren‘. (Ebd., 549f., 552f., 582)

Domestizierte Tiere sind solche, die gezielt gezüchtet wurden, um unseren Zwecken zu dienen: zur Ernährung, zum Schutz, als Gesellschaft usw. Diese Tiere wurden in unsere Gemeinschaft hineingebracht und sind mittlerweile völlig abhängig von uns. Dadurch haben wir sie, jedenfalls kurzfristig, jeder anderen möglichen Existenzform beraubt. Die Domestizierung war mit vielen Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten verbunden: Gefangenschaft, erzwungene Fortpflanzung und Arbeit sowie meist vorzeitiger Tod. Die Domestizierung kann mit dem Import von Sklaven aus Afrika verglichen werden. Auch sie wurden unfreiwillig in andere Länder gebracht, um dort zu arbeiten. (Ebd., 554f.)

Die einzige moralisch legitime Reaktion auf beide Formen der Unterwerfung, auf die Versklavung von Tieren wie Menschen, besteht für Donaldson/Kymlicka darin, diesen Tieren und Menschen den Status von Mitbürgern zu geben. Mit anderen Worten: Bei domestizierten Tieren sollte die Einbürgerung, die bei Sklaven bzw. deren Nachkommen erfolgt ist, nachgeholt werden, domestizierte Tiere sollten den Status von Mitbürgern erhalten. (Ebd., 555)

Und mit diesem Mitbürgerstatus domestizierter Tiere wäre die Nutzung ihrer Arbeitskraft und ihrer Produkte durchaus vereinbar, von Mitbürgern einen Beitrag zu erwarten, ist legitim. Dabei darf allerdings der Mitbürgerstatus der Tiere nie aus dem Blickfeld geraten. Dazu gehört, dass ihre Handlungsfähigkeit und Interessen stets respektiert werden, ihre Arbeitsbedingungen gut sind, sie die Möglichkeit haben, die Arbeit zu verweigern usw. Unter solchen Voraussetzungen wäre dann beispielsweise auch die Haltung von Hühnern im eigenen Garten samt Nutzung ihrer Eier vorstellbar: Wenn ein volles und gutes Leben der Küken gewährleistet ist, werden Hühner nicht dadurch geschädigt, dass manche ihrer Eier entnommen werden. Allerdings könnte sich ein Verbot der Kommerzialisierung als notwendig erweisen, weil Gewinnbestrebungen die Einhaltung der Schutzbestimmungen gefährden. (Ebd., 561-563)

Literatur

Donaldson, Sue, Kymlicka, Will: Von der Polis zur Zoopolis. Eine politische Theorie der Tierrechte. In: Friederike Schmitz (Hg.): Tierethik: Grundlagentexte. Berlin 2014, 548-583.

Francione, Gary L.: Empfindungsfähigkeit, ernst genommen. In: Friederike Schmitz (Hg.): Tierethik: Grundlagentexte. Berlin 2014, 153-175.

Kaplan, Helmut F.: Vegan soll keine Religion sein: Für eine realistische Ethik. Norderstedt 2013.

Regan, Tom: Vegan Choice. O.J. In: tomregan.info/vegan-choice/ (21.1.2016)

Regan, Tom: Von Menschenrechten zu Tierrechten. In: Friederike Schmitz (Hg.): Tierethik: Grundlagentexte. Berlin 2014, 88-114.

Regan, Tom: The Case for Animal Rights. London 1984.

Regan, Tom: Utilitarianism, Vegetarianism, and Animal Rights. In: Philosophy & Public Affairs, 9/4 (1980), 305-324.

Singer, Peter: Praktische Ethik [1984]. Stuttgart 32013.

Wolf, Ursula: Ethik der Mensch-Tier-Beziehung. Frankfurt a.M. 2012.

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Helmut F. Kaplan (02.08.2017; 16:04 Uhr)
helmut_kaplan@yahoo.de

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Veröffentlicht von „der fellbeißer“© (www.fellbeisser.net/news/) am 02.08.2017
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