Vom Verschwinden einer Frage

Helmut F. Kaplan

Seit jeher stellten sich Menschen die Frage, ob es moralisch in Ordnung sei, Tiere zu töten, um sie zu essen. Und je mehr sich in den letzten Jahrzehnten herausstellte, dass wir auf Fleisch nicht angewiesen sind (weil es in unseren Breiten viele andere Nahrungsmittel gibt), dass Fleisch unserer Gesundheit schaden kann (weil es etwa das Krebsrisiko erhöht), dass die Fleischproduktion die Umwelt schädigt (etwa den Treibhauseffekt verstärkt) und die Welternährungssituation verschärft (weil der Umweg über tierliche Körper eine immense Ressourcenvergeudung bedeutet), desto drängender wurde die Frage nach der moralischen Vertretbarkeit des Fleischessens. Aber ausgerechnet eine Debatte über den Vegetarismus hat dann das Fleischessen aufgewertet und den alten Gegensatz Fleisch versus vegetarisch nivelliert:

Das Ergebnis der sogenannten „Vegetarismus-Debatte“ um die Bücher „Tiere essen“ (2010) und „Anständig essen“ (2011) war nicht kein Fleisch, sondern weniger Fleisch: Praktisch alle einschlägigen Sendungen, Artikel und Diskussionen kamen zum Ergebnis, dass völliger Fleischverzicht weder medizinisch noch ökologisch notwendig sei, dass wir aber weniger Fleisch essen sollten. Der „gute alte Sonntagsbraten“ fehlte in kaum einem Fazit. Die Forderung „Weniger Fleisch!“ befindet sich aber ethisch bzw. argumentativ auf der gleichen Ebene wie „Weniger foltern!“ oder „Weniger vergewaltigen!“ Aber prinzipielle Probleme erfordern prinzipielle Positionen. Deshalb fordern Menschenrechtler auch nie, dass weniger gefoltert oder weniger vergewaltigt werden sollte – weil Foltern und Vergewaltigen immer falsch sind. „Weniger Fleisch!“ suggeriert und impliziert, dass Fleischessen an sich schon in Ordnung sei und nur ein Zuviel problematisch.

Die Losung „Weniger Fleisch!“ ist weiters de facto ein gutes Vehikel, um Fleisch zu verkaufen, weil sie ein optimaler Aufhänger für Stichwörter und Botschaften ist, die das Fleisch-Image verbessern: „weniger, aber dafür besseres Fleisch“, „bewußter essen“, „bio“, „öko“, „den Wert des Lebensmittels Fleisch wieder schätzen“, „vor den getöteten Tieren Respekt haben“ usw..

Die „Vegetarismus-Debatte“ hatte also gleich zwei paradoxe Folgen: Einerseits wurde der alte Gegensatz Fleisch versus vegetarisch entschärft, indem ethische Bedenken, genauer: tierethische Bedenken, weitgehend zerstreut wurden: weil „Weniger Fleisch!“ impliziert, dass Fleischessen an sich in Ordnung ist. Andererseits wurde das Fleischessen aufgewertet („bio“, „öko“, „bewußt“, „Respekt“ usw.), quasi argumentativ wetterfest und zukunftstauglich gemacht. Essen wurde entideologisiert und „entethisiert“, es gilt mittlerweile weitgehend als Privatsache. Die Frage „Fleisch oder vegetarisch?“ ist der Frage „Bio oder konventionell?“ gewichen.

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Helmut F. Kaplan (21.04.2017; 10:28 Uhr)
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Veröffentlicht von „der fellbeißer“© (www.fellbeisser.net/news/) am 21.04.2017
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